
Globale Risiken, digitale Chancen – wohin steuert die Logistik der Zukunft?
Geopolitische Konflikte, Cyberrisiken und ein geändertes Konsumverhalten erhöhen den Druck auf die Supply Chains weltweit. Wie gehen Unternehmen der Logistik mit den multiplen Herausforderungen um? Wie lässt sich die Resilienz von Lieferketten und Datenströmen stärken? Und welche Bedeutung hat der Faktor Mensch in der Logistik der Zukunft? Unternehmensvertreter und Experten im Gespräch an unserem Roundtable.
TALK IM TURM ist ein Diskussionsformat von SPIRIT of Styria.
Jeden Monat laden wir Expertinnen und Experten zur Diskussion über ein spannendes Wirtschaftsthema an den Runden Tisch in die Redaktion an den Technopark Raaba.

Managing Partner
Independent Logistics Society

Head of Product Management,
SSI Schäfer

Gründer und Geschäftsführer
Gall Pharma

Bereichsleiter Wirtschaft/Logistik
& Leiter Stabsstelle Supply
Chain Management
LKH-Univ. Klinikum Graz

Geschäftsführer redPILOT

Head of Technology,
ACL GmbH
Logistik im Umbruch: Wie ist der Wandel in Ihrem Bereich spürbar?
Die Welt ist im Wandel und damit auch die Logistik, das Betriebssystem der Welt. Wir beobachten bei unseren Partnern in allen Bereichen, dass sich dieser Wandel immer schneller vollzieht. Alle Player in der Logistik sind gefordert, noch effizienter zu werden und immer schneller zu reagieren – idealerweise stellen sie sich vorausschauend den kommenden Themen. Daher ist es für uns als ILS entscheidend, die maßgeblichen Trends aufzuzeigen und die Unternehmen in die richtige Richtung mitzunehmen. Das Leitthema in diesem Jahr lautet „Digital Empowerment“. Digital steht für Technologie, Empowerment für den Menschen – darüber spannen wir das Thema Nachhaltigkeit. Das sind auch die drei Säulen, auf die wir das Mainevent im September in Leoben aufbauen – mit unterschiedlichen Formaten, die weit über klassische Paneldiskussionen hinausreichen. So machen wir mit Logistikexperten wieder unseren „Kitchentalk“ oder führen eine Fish-Eye-Diskussion, die echte Interaktion mit den Teilnehmern ermöglicht. Inhalte am Puls der Zeit, die kreativ und interaktiv vermittelt werden.
Wir sind E-Commerce-Dienstleister und damit nahe am Endkunden. In den vergangenen Jahren gab es ein stetes Auf und Ab am Markt. Erst der Corona-Boom, dann der Einbruch und nunmehr eine Konsolidierung. Zuletzt gerieten einige E-Commerce-Händler ins Straucheln und haben sich teilweise wieder aus dem E-Commerce-Business verabschiedet. Die Herausforderungen, um nachhaltig wirtschaftlich zu agieren, steigen. Automatisierung gewinnt an Bedeutung, ebenso wie das Thema Künstliche Intelligenz. Hier tut sich extrem viel am Markt. Auch im Personalbereich erleben wir spannende Entwicklungen. Wir sehen gerade in der IT eine ganz neue Generation an Entwicklerinnen und Entwicklern mit geänderten Ansprüchen, denen man auch entsprechend begegnen muss. Daher ändert sich auch im HR-Bereich sehr viel. Und darüber hinaus spielen auch Green-IT und Kreislaufwirtschaft bei uns eine immer größere Rolle, indem wir versuchen, Ressourcen einzusparen, und unsere Händler dabei unterstützen, mit Retouren nachhaltiger umzugehen.

„Ziel muss es sein, junge Menschen für das Thema Logistik zu begeistern. Dafür braucht es Geschichten, die vermitteln, wie spannend, cool und facettenreich Logistik in Wahrheit ist.“
Woran liegt es, wenn E-Commerce-Firmen aufgeben?
Weinberger Es sind unterschiedliche Gründe – sie reichen von Lieferkettenproblemen bis zu spezifischen Anforderungen in der Modebranche. Ein Bereich, in dem wir als ACL einen Fokus haben. Einen Fashion-Webshop profitabel zu betreiben, ist nicht einfach. Mode hat hohe Retourenquoten und hohe Wiederaufbereitungskosten – teilweise müssen auch Artikel vernichtet werden. Alle Abläufe müssen optimal funktionieren, damit man entlang der Prozesskette profitabel bleibt. Jeder Online-Shop braucht externe Services im Bereich Online-Marketing, die Geld kosten und auch anfallen, wenn Kunden am Ende nicht bestellen oder retournieren. Im Schnitt kann man für jede Online-Bestellung mit Marketingkosten zwischen 5 und 10 Euro rechnen. Daher sollte man Softwareprobleme oder Prozessfehler tunlichst vermeiden – sonst verliert man rasch Geld. Im Modebereich sind wir aber nicht nur B2C, sondern auch B2B tätig – vor allem im Bereich Dienstbekleidung, etwa für die Lufthansa oder die Deutsche Bahn. Hier stellen wir Onlineshops bereit, in denen sich Mitarbeiter ihre Uniformen bestellen können. Generell sehen wir im E-Commerce über alle Kunden hinweg ein konstantes Wachstum. Ich bin sicher, dass E-Commerce weiterwachsen wird. Schließlich gibt noch viele Marktfelder mit Potenzial.
Wir von redPILOT entwickeln Softwarelösungen, die den laufenden Betrieb eines Lager- und Logistikstandorts nachhaltig verbessern, indem wir den Fokus auf das bestmögliche Nutzen der vorhandenen Ressourcen legen. Zentral dabei ist die Optimierung der wichtigsten – und gleichzeitig teuersten – Ressource des operativen Betriebs: der richtige Personaleinsatz. Auch wir sehen, dass immer mehr Automatisierung gefordert wird, auch im Bereich E-Commerce oder bei sogenannten Multichannel-Anwendungen. Unser Unternehmen kommt vor allem dort ins Spiel, wo der Betrieb der Logistikinfrastruktur etwas komplexer wird, etwa aufgrund von schwankenden Auftragsprofilen, hoher geforderter Flexibilität oder unübersichtlicher Materialflüsse. Bei allem Fortschreiten der Automatisierung spielt der Mensch immer noch die entscheidende Rolle, er hält die automatisierten Anlagen hoch verfügbar, handhabt jene Artikel, die für Automatisierung ungeeignet sind und organisiert bzw. steuert natürlich den Logistikbetrieb. Unsere Lösungen ermöglichen es, dieses Management zu unterstützen, die Automatisierung bestmöglich auszulasten und Mitarbeiter in der Logistik optimal in den Prozess zu integrieren und an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz am Logistikstandort entsprechend der Qualifikationen so effizient wie möglich einzusetzen. Grundlage dafür bildet unsere digitale Abbildung aller Prozesse der Logistikinfrastruktur.
Auch Gall Pharma ist logistisch vielfach gefordert – in der Beschaffung und im Vertrieb. Wo erleben Sie den größten Wandel?
In der Logistik war Covid für uns eine Zäsur und hat im Bereich der Lieferketten vieles verändert – bis heute. Die Lieferzeiten haben sich dramatisch verschoben, dadurch sind wir im Einkauf und der Lagerhaltung extrem gefordert. So hatten wir unsere Leerkapseln, die wir aus Kolumbien beziehen, vor Corona innerhalb von vier bis sechs Wochen im Haus, jetzt sind wir bei zwölf Monaten. Ähnlich bei Dosen, Verpackungsmaterialien und dergleichen. Die Lieferketten haben sich nach Corona nie wieder so eingespielt, wie wir es kannten. Damit steigen die Anforderungen an die Lagerhaltung und die Lagerkosten. Und wenn Sie sich fragen, warum Leerkapseln aus Kolumbien, kann ich Ihnen klar sagen: Beim einzigen relevanten Anbieter in Europa müsste ich dafür ungefähr das Dreifache zahlen – und das macht bei 60-70 Millionen benötigter Kapseln im Jahr einen gewaltigen Unterschied. Eine globalisierte Einkaufslogistik ist überlebensnotwendig, weil die Produktionskosten in Europa zu hoch sind – auch die EU-Bürokratie trägt dazu bei. Da könnte ich Ihnen viele Beispiele nennen.

„In der Logistik gilt dasselbe wie in der Medizin: Vorbeugung schützt! Ist aber leider unbequem und kostet Geld. Daher hat sich Europa in eine große Abhängigkeit begeben.“
Ein Beispiel bitte.
Ein Beispiel ist das Verbot von Titandioxid in Lebensmitteln und damit in Nahrungsergänzungsmitteln – ein weißes Pulver, das die Kapseln undurchsichtig macht. In Arzneimitteln ist es erlaubt. Schließlich ist Titandioxid eines der inertesten – und damit unbedenklichsten – Substanzen, die es gibt. Dennoch muss in Europa mit einem Alternativ-Inhaltsstoff produziert werden. Dieser hat aber produktionstechnisch ungünstige Eigenschaften und läuft auf den Füllmaschinen nicht reibungslos. Ein banal klingendes Thema, aber für uns eine echte Herausforderung. Auch das Lieferkettengesetz ist in der Umsetzung völlig absurd. Denn wenn ich als Gall-Pharma aus Judenburg einen großen außereuropäischen Lieferanten ersuche, mir all seine Zertifikate für eine rundum nachhaltige und saubere Produktion zu schicken, dann würde der antworten: „Danke! Aber kauf deine Sachen anderswo!“ Daher frage ich erst gar nicht, weil ich sonst einen Teil meiner Produktpalette einstampfen könnte. Sehr oft gibt es nämlich keine Alternativen. Viele Rohstoffe kann ich nicht einfach in Europa zukaufen.

„Die Sensibilität der menschlichen Hand ist einzigartig und schwer automatisierbar. Es gibt noch keinen Greifer, der eine menschliche Hand ersetzen kann. Vielleicht in Zukunft.“
Der größte Wandel im Bereich der Intralogistik?
Wir haben es bereits gehört: Automatisierung wird immer wichtiger. Das kann ich aus unserer Sicht nur bestätigen. Die Anlagen werden tendenziell immer größer. Ich denke, wir werden schon bald die 1-Milliarde-Euro-Grenze bei Anlagen knacken. Derzeit sind wir im Bereich von mehreren hundert Millionen bei Großprojekten. Auch das Thema Robotik gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Zusätzlich zur stationären Robotik liegen autonome mobile Roboter (AMRs), die am Standort Transporte von A nach B erledigen, stark im Trend. Hier erleben wir einen zunehmenden Mitbewerb aus Asien. Durchaus eine Herausforderung. Denn während wir Europäer auf dem asiatischen Markt aufgrund der unterschiedlichen Regularien nicht mehr konkurrenzfähig sind, drängen chinesische Anbieter verstärkt nach Europa. Gleichzeitig achten unsere Kunden sehr wohl auf die Qualität und damit auf Kriterien wie die Lebenszeit einer Anlage. Schließlich garantiert man als Generalunternehmer, dass die Anlage 20 Jahre läuft.
Die Kunden wollen alles aus einer Hand?
Ja, die Kunden vertrauen nach wie vor den großen Generalunternehmen. Die Gesamtverantwortung sieht man gerne in den Händen eines europäischen Anbieters, an den man sich im Fall des Falles wenden kann. Was sich aber ändert: Früher haben wir eine Anlage hingestellt und mussten während der Laufzeit in der Regel nicht mehr eingreifen. In Zeiten von Cybersecurity und NIS 2 gilt das nicht mehr. Als Hersteller muss man nun eine Vielzahl an Auflagen erfüllen, die bislang nicht notwendig waren. Dadurch sind wir gefordert, uns etwas anders aufzustellen, die Softwarearchitektur zu ändern bzw. auch die Geschäftsmodelle anzupassen, um den Mehraufwand zu kompensieren. Eine Entwicklung, die uns derzeit massiv beschäftigt. Wir müssen für die Zukunft planen und gleichzeitig die Vergangenheit bewältigen – denn künftig sind wir verpflichtet, auch Sicherheitslücken in bestehenden Anlagen, die bereits vor Jahren errichtet wurden, zu schließen. Als Hersteller müssen wir die Garantie abgeben, dass wir im Ernstfall – wenn Sicherheitslücken auftauchen – unverzüglich etwas unternehmen. Das ist Teil des Cyber Resilience Act.
Wie wichtig das sein kann, zeigt ein aktuelles Beispiel eines – wie ich denke sogar gemeinsamen Kunden – aus England. Eines der größten Einzelhandelsunternehmen Großbritanniens hat zuletzt rund 300 Millionen Pfund Verlust bekanntgegeben, weil es mehrere Monate lang mit Ausfällen durch Cyberangriffe zu kämpfen hatte. Die mussten ihr komplettes Online-Business abschalten – eine Katastrophe für das Unternehmen.
Cybersecurity ist auch für uns extrem wichtig. Schließlich arbeiten wir mit einer Vielzahl an Kunden- und Zahlungsdaten und die Sicherheit und Privatsphäre unserer Kunden hat für uns oberste Priorität. Daher haben wir seit jeher erhöhte Auflagen, die wir erfüllen wollen, und betreiben einen immensen Aufwand, um Angriffe abzuwenden und unsere Systeme proaktiv abzusichern. Aber mittlerweile ist das Thema für jede Firma ab einer gewissen Größe eine existenzielle Frage.
Wie stark ist die Krankenhauslogistik im Wandel?
Zur Einordnung: Das Uniklinikum in Graz ist das größte Krankenhaus Mitteleuropas, knapp 70 Fußballfelder groß. Hier arbeiten rund 7.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, rund 700 davon im Bereich Wirtschaft/Logistik. Die Ereignisse rund um den Amoklauf in Graz haben zuletzt wieder gezeigt, wie lebenswichtig eine schnelle Versorgung von Patienten ist – eine reibungslose Logistik kann hier einen Beitrag leisten. Der wichtigste Faktor in unserem Haus ist und bleibt der Faktor Mensch – getreu unserem Leitsatz: „Menschen helfen Menschen“. Das bedeutet in der Praxis, dass wir im Uniklinikum alles tun, um den Menschen einerseits „am Bett“ mit Empathie zu begegnen, aber auch im Hintergrund die logistischen Abläufe so zu orchestrieren, dass wir die bestmögliche Versorgung der Stationen, Ambulanzen, Labore und OPs gewährleisten, damit diese sich auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten konzentrieren können. Dazu gehören auch resiliente Lieferketten, die seit Corona – wie von Herrn Gall bereits ausgeführt – massiv unter Druck stehen. Vor Corona war eine Just-in-Time-Anlieferung die Regel – man hatte alles innerhalb von Tagen bzw. einer Woche im Haus. Heute ist man gezwungen, vieles auf Lager zu legen, was natürlich Kapital bindet. Angesichts der geopolitischen Krisen und Konflikte ist das kein Thema, das sich so schnell wieder verflüchtigt – im Gegenteil. Wir müssen uns vorbereiten. Im Uniklinikum haben wir bereits vor Jahren ein „Gesamtkonzept Logistik“ erstellt, das auch ein eigenes Notfallkonzept für unsere Logistik beinhaltet. Dazu gehört etwa auch die Frage, wie wir uns als kritische Infrastruktur im Falle eines Blackouts wappnen, um die Ver- und Entsorgung aufrecht erhalten zu können.
Die Logistik spielt sich für die meisten Patienten unsichtbar im Hintergrund ab?
Oder im Untergrund. Wir nutzen ein unterirdisches Tunnelsystem, das in Summe sieben Kilometer lang ist, rund 1,9 km allein der von uns genutzte Logistiktunnel. Dort absolvieren wir ungefähr 1.500 Transportfahrten pro Tag mit E-Schleppern bzw. kommt auch ein Autonomer Mobiler Roboter (AMR) zum Einsatz. Der Vorteil des Tunnels: Egal, ob Winter oder Sommer, man hat immer konstante Temperaturen und aufgrund der Ebenerdigkeit kaum Erschütterungen – ideal für den Transport etwa von operierten Patienten. Wir transportieren im Tunnel täglich 17 Tonnen Wäsche, rund zehn Tonnen Abfall und 3.600 Mahlzeiten.
Ein weiteres Thema, das uns wohl alle hier am Tisch betrifft, ist die zunehmende Flut an Informationen und Daten. Dadurch ist es einem einzelnen Mitarbeiter gar nicht mehr möglich, zu verstehen, was in einer Anlage genau passiert. Aus diesem Grund führt kein Weg an KI vorbei. Wer in der Logistik auf KI verzichtet, auf den wird bald verzichtet werden. Wir stehen hier erst am Beginn – spätestens in drei, vier Jahren werden alle, die mit Software und Intralogistik zu tun haben, massiv Künstliche Intelligenz einsetzen. KI kann Komplexität reduzieren und die Datenflut für Einzelne beherrschbar machen. Vorausgesetzt, man weiß, wie man sie richtig nutzt. Klar, KI ist auch mit Risiken verbunden. Viele Fragen sind noch ungeklärt – etwa: Wer hält das Intellectual Property an einer Software, die von KI programmiert wurde? Bei KI sind wir derzeit in der dritten Welle. Die Wellen, die auf uns zukommen, werden immer kürzer. Jetzt erleben wir die Phase der AI Agents, wo sich die KI mit einer anderen KI gleichsam selbst trainiert. Die Folge ist eine massive Beschleunigung in der Entwicklung.
Digitalisierung spielt auch bei uns eine enorm wichtige Rolle. So sind wir das einzige Universitätsklinikum im gesamten DACH-Raum, das flächendeckend ein Track & Trace-System implementiert hat. Wir haben das für alle relevanten Gütergruppen – ob Materialwirtschaftsgüter, Apothekenware oder Sterilgut – eingeführt und können so das Tracking in Echtzeit nachvollziehen. Auch Automatisierung und Robotik werden immer wichtiger. So haben wir vor drei Jahren die ersten Reinigungsroboter implementiert. Mittlerweile haben wir bereits eine kleine Roboterfamilie im Einsatz – zum Teil auch als Clown gebrandet, z.B. im Kinderzentrum, um die Akzeptanz zu erhöhen, aber auch um Kinderaugen zu „erhellen“. Es ist uns wichtig, immer wieder Vorreiter zu sein. Wir haben auch bereits überlegt, Drohnen einzusetzen. Die Regulative lassen dies derzeit aber so noch nicht zu. In der Schweiz ist man da schon weiter – dort sind bereits Drohnen im Einsatz. Mein Grundsatz: Es sollte keine Denkverbote geben – ich bin ein großer Freund von sogenannten Dark Horse-Ideen, also von besonders gewagten, neuartigen Ansätzen. Auch wenn dies enorme Überzeugungsarbeit bedeutet. Das war auch so, als ich gemeinsam mit unserem KAGes-Textilservice die RFID-Tags in der neuen bunten und entpersonalisierten Dienstbekleidung am Klinikum einführen wollte. Ich erntete viel Widerstand, heute ist es ein Erfolgsprojekt, bei dem rund 5.000 Mitarbeitende auf diese Weise ausgestattet sind.

„Vor Corona war eine Just-in-Time-Anlieferung die Regel – man hatte alles innerhalb von Tagen im Haus. Heute ist man gezwungen, vieles auf Lager zu legen, was Kapital bindet.“
Die Debatte zeigt: Logistik ist enorm vielschichtig – entgegen dem Klischee?
Die Beiträge hier am Tisch demonstrieren anschaulich, was sich hinter dem Begriff Logistik alles verbirgt – wir sehen: Logistik ist tatsächlich das Betriebssystem der Welt. Ganz im Gegensatz zu dem, was sonst gemeinhin unter dem Begriff Logistik verstanden wird. Viele von uns, auch Politiker, denken bei Logistik oft als Erstes an Lkw und Lkw-Fahrer. Daher finde ich die Diskussion so wertvoll – das ist auch der Antrieb für unsere Aktivitäten bei der ILS. Wir bringen Menschen zusammen, damit ein Austausch entsteht – über das ganze Jahr. Wenn ich in Wien bin, merke ich, wie wenig Wissen darüber vorhanden ist, was in der Steiermark in der Logistik alles passiert und welche großartigen Unternehmen hier agieren. Je mehr wir auf dem Thema draufbleiben, desto mehr werden wir alle sichtbar. Wir transportieren die Vielfalt der Steiermark zum Thema Logistik.
Worauf kommt es Ihnen dabei an?
Ein besonderer Fokus gilt der nächsten Generation. Die entscheidende Frage ist, wie wir es künftig schaffen, junge Menschen für das Thema Logistik zu begeistern. Daher geben wir Lehrlingen bei unserem Event in Leoben auch in diesem Jahr wieder eine Bühne. Ich bin jedes Jahr auf der Logimat, einer der größten Messen für Intralogistik, und war gerade auf der Transportlogistik in München. Und wenn ich da und dort honorige Professoren in einer großen Halle sehe, wie sie ihre Thesen auf Powerpoint-Folien präsentieren, dann bekomme ich Zweifel, ob wir damit das Ziel erreichen – ich denke, wir brauchen andere Formate. Daher ist es unser Ziel, genau diese Geschichten, wie wir sie heute hören, zu erzählen – und zu vermitteln, wie spannend, cool, facettenreich und international die Logistik wirklich ist. Dabei ist Resilienz ein ganz wichtiger Faktor, den wir auch bei unserer Veranstaltung im September thematisieren werden.
Was bedeutet Resilienz in Ihrem Bereich und wie kann man sie stärken?
Eine der größten Herausforderungen im Logistikbetrieb sind Schwankungen, die die optimale Betriebs- und Einsatzplanung erschweren. Im Unterschied zu einem Produktionsbetrieb kann sich der Bedarf an einem Logistikstandort von jetzt auf gleich ändern – man kann nicht allzu lange auf genauen Auftragsdaten vorausplanen. Die Menge an Artikeln, die Konsumenten auf diversen Plattformen bestellen, lässt sich nicht immer einfach abschätzen – das kann von einer Stunde auf die andere stark variieren. Und als Logistikbetrieb muss man darauf sofort reagieren. Im E-Commerce kommt es häufig zu einem sprunghaften Anstieg bei bestimmten Waren. Der Logistikstandort steht dann vor der Herausforderung, den zusätzlichen Personalbedarf zu decken. Resilient ist, wer es schafft, dieses Problem zu lösen und alle Aufträge kontinuierlich gut abzuarbeiten. Unsere Lösung dafür ist eine eigens entwickelte Team-App für Logistik-Mitarbeiter. Diese ermöglicht eine flexible Personaleinsatzplanung und verschickt im Bedarfsfall Push-Nachrichten an Aushilfskräfte, vielfach Studierende, die sich kurzfristig für ein paar Stunden melden können. So können wir von einer Schicht auf die nächste, fallweise sogar innerhalb einer Schicht, absolut flexibel reagieren.

„Bei allem Fortschreiten der Automatisierung: Der Faktor Mensch spielt immer noch die entscheidende Rolle in der Logistik und wird auch in Zukunft nie vollständig ersetzt
werden.“
Braucht man im Lager der Zukunft überhaupt noch Mitarbeiter?
Ich glaube nicht, dass Menschen in der Logistik komplett ersetzbar sind – auch in Zukunft nicht. Automatisierung wird immer für einen bestimmten Anwendungsfall geschaffen, die Abläufe funktionieren innerhalb eines – relativ starren, für genau diesen Einsatz entwickelten – Systems. Der Vorteil des Menschen ist die Flexibilität. Was sich bereits geändert hat: Früher haben sich die Mitarbeiter zur Ware bzw. zum Regal hinbewegt und dort kommissioniert. Heute sind Ware-zu-Person-Arbeitsplätze im E-Commerce der Regelfall. Es gibt nun Kommissionierroboter in diesem Bereich, aber immer für bestimmte Artikelgruppen – diese sind noch lange kein durchgängiger Ersatz für den Menschen.
Die Varianz der Produkte ist einfach zu groß. Und die Sensibilität der menschlichen Hand ist einzigartig und schwer automatisierbar. Es gibt noch keinen Greifer, der eine menschliche Hand ersetzen kann. Vielleicht irgendwann in der Zukunft – aber das wird noch dauern.
Selbst wenn das gelingt – den Faktor Mensch wird es in der Lagerlogistik immer brauchen – für das Führen der Anlagen und des Produktionsbetriebs, für das Warten und Servicieren und auch eine Reihe intelligenter Tätigkeiten im Lager, die nicht genau prognostizierbar sind und deshalb auch nicht effizient mit Automatisierung abgedeckt werden können.
Die Spitzenabdeckung ist in der Tat das große Thema in der Logistik. Es wird regional sehr unterschiedlich gehandhabt, wie man mit diesen Spitzen umgeht. Am amerikanischen Markt designt man Anlagen auf die Maximalanforderung eines Black Friday – was bedeutet, dass die Anlage dann zum Großteil des Jahres unausgelastet bleibt. In den drei Wochen vor Black Friday werden dann busweise so viele Mitarbeiter wie möglich zum Standort gekarrt. Der Mitarbeitermangel im Lager ist übrigens weltweit ein Problem, etwa in den großen Logistikzentren Europas wie im Raum Prag – dort werden Menschen teilweise schon aus Indonesien geholt. Das Problem hat man auch bereits in China. Selbst dort rentiert es sich zunehmend zu automatisieren.

„Als Omnichannel-Dienstleister enabeln wir unsere Mandanten, dass sie bestmöglich an ihre Kunden verkaufen können – egal, ob jemand im Webshop, bei Online-Plattformen oder
stationär kauft.“
Was bedeutet Resilienz im E-Commerce?
ACL steht für Unified Commerce – für Einkaufserlebnisse im Omnichannel. Dabei müssen alle Verkaufskanäle – ob stationär oder digital – gemeinsam gedacht und mit integrierten Software-Lösungen umgesetzt werden. Das Ziel: Produkte und Kunden so einfach und schnell wie möglich zusammenzubringen – über alle Kanäle hinweg. Wir enablen unsere Händler, dass sie bestmöglich an ihre Kunden verkaufen können – egal, ob der Kunde im Webshop, bei Online-Plattformen oder im stationären Laden bestellt. Das Spektrum reicht von reinen Online-Bestellungen bis zu Click & Collect und Bestellungen vor Ort. Unsere Aufgabe ist es, dass die Bestellungen zentral zusammenkommen und alle Prozesse entlang der Logistikkette funktionieren – ob Payment, Fulfillment, aber auch die Kundenbetreuung. Resilienz bedeutet, dass sowohl Technik als auch die Prozesse stabil aufgesetzt sind und auch mit unerwarteten Fehlern und Problemsituationen umgehen können. Darüber hinaus kümmern wir uns auch um das Produktinformationsmanagement – d.h. wir bereiten die Darstellung der Produkte mit Daten und Fotos auf. Oft werden Produktfotos und -texte bereits von der KI generiert – hier hat sich die Qualität in den vergangenen Jahren extrem verbessert. Ein gut fotografiertes T-Shirt lässt sich heute beispielsweise problemlos in allen Farben auf Models unterschiedlicher Größen „klicken“.
Resilienz für Gall Pharma bedeutet, dass wir die Produkte rasch, sicher und in höchster Qualität an den Kunden liefern können. In der Ausgangslogistik tun wir uns etwas leichter als in der Beschaffung, allerdings gibt es auch hier Stolpersteine. Ein Beispiel: Derzeit gibt es bei Nahrungsergänzungsmitteln einen Boom bei Lithium. Als Arzneimittel ist es ein uraltes Psychopharmakon und wird bei Depressionen und Schizophrenie eingesetzt. In niedriger Dosierung ist es stimmungsaufhellend. Laut EU darf Lithium aber nicht als Nahrungsergänzungsmittel angeboten werden. Außerhalb der EU ist das hingegen überhaupt kein Thema. Man kann es sich über Versandhändler wie Amazon & Co. in die EU liefern lassen. Nur als in der EU ansässiges Unternehmen muss ich allerhand Kunstgriffe anwenden, um es anbieten zu können.
Zum Thema Resilienz gehört für mich an erster Stelle die Prävention. Also vorbeugen, vorab zu schauen, wie man im Falle von Problemstellungen agieren wird – das ist ganz entscheidend, klassisches Risikomanagement. Da hat jeder seine Hausaufgaben zu erledigen. Im Lean Management gibt es dafür den Begriff Hoshin Kanri – es geht darum, mit Weitblick strategisch vorzuplanen. Da hilft es nicht nur zu reden, sondern wir müssen ins Tun kommen. In Europa sind wir in so vielen Bereichen von anderen abhängig, u.a. bei medizinischer Ausrüstung – ich nenne nur das Beispiel der Schutzhandschuhe. Wir haben in Europa kaum Produktionsfirmen. Und die nächste Pandemie kommt bestimmt – sind sich die Experten einig. Europa braucht jedenfalls mehr Mut und Selbstbewusstsein, um eigene Produktionskapazitäten zu ermöglichen bzw. zu unterstützen.
Was die Beschaffung betrifft, sitze ich in einem ähnlichen Boot wie Herr Kazianschütz. Schließlich bin ich nicht nur Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln, sondern auch im pharmazeutischen Großhandel tätig und beliefere Apotheken. Leider haben wir es in der EU konsequent hinbekommen, die gesamte rohstoffproduzierende Industrie umzubringen. Daher kommt heute fast alles aus Indien und China. Es gibt mittlerweile ständig ein paar hundert Arzneimittel, die schwer verfügbar sind. Wir haben uns in den letzten 20 Jahren in eine große Abhängigkeit begeben. Daher gilt für die Logistik dasselbe wie in der Medizin: Vorbeugung schützt! Ist aber leider unbequem und unpopulär. Und kostet Geld.
Was bedeutet Resilienz in der Intralogistik?
Resilienz bei uns bedeutet, dass man immer das gesamte System betrachtet und nicht nur einzelne Puzzlestücke, die für sich funktionieren. Der Kunde braucht eine Systemlösung, um sein Business zu betreiben und das muss in sich schlüssig und resilient designt sein. Es muss so gestaltet sein, dass es von sich aus ausfallsicher ist, Back-up-Szenarien beinhaltet und in der Lage ist, automatisiert Lösungen zu finden, um Downtimes auszugleichen.
Was bedeutet Resilienz in der Intralogistik?
Resilienz bei uns bedeutet, dass man immer das gesamte System betrachtet und nicht nur einzelne Puzzlestücke, die für sich funktionieren. Der Kunde braucht eine Systemlösung, um sein Business zu betreiben und das muss in sich schlüssig und resilient designt sein. Es muss so gestaltet sein, dass es von sich aus ausfallsicher ist, Back-up-Szenarien beinhaltet und in der Lage ist, automatisiert Lösungen zu finden, um Downtimes auszugleichen.
Ihr Resümee, Herr Bergles?
Ich bin begeistert! Die Gespräche hier spiegeln die vielfältige Welt der Logistik auf authentische Art wider. Die Vernetzung ist entscheidend – gerade auch mit der nächsten Generation. Die Botschaften, die wir heute diskutiert haben, gehören noch mehr in Richtung Wirtschaftspolitik transportiert. Denn Logistik ist ganz zentral und auch wenn sie meist unsichtbar ist, müssen wir sie transparent machen und Erfolgsgeschichten erzählen und nicht nur darüber reden, wenn ein „Schifferl“ im Suez-Kanal stecken bleibt. Mit unserer Plattform haben wir die Möglichkeit, das zu tun. Daher lade ich Interessierte sehr gerne ein, bei uns mitzuwirken und im September bei unserem Event in Leoben teilzunehmen.
ILS2025
Digital Empowerment – Redefining Movement for a Sustainable Future
Vom 16. bis 18. September 2025 wird Leoben wieder zum Treffpunkt für führende Köpfe aus Logistik, Industrie und Mobilität – im Rahmen des ILS365 Main Events. Unter dem diesjährigen Leitthema „Digital Empowerment – Redefining Movement for a Sustainable Future“ stehen Kreislaufwirtschaft, digitale Effizienz und der Mensch als aktiver Treiber von Veränderung im Mittelpunkt.
Location:
Live Congress Leoben
ils365.at
Fotos: Oliver Wolf